Entgrenzung: Auswirkungen erweiterter arbeitsbezogener Erreichbarkeit

Kommunikationsmedien wie Mobiltelefone, Laptops etc. ermöglichen quasi immer und überall eine arbeitsbezogene Kontaktaufnahme und den Zugriff auf betriebliche Nachrichten. Damit besteht die Gefahr, dass die Grenze zwischen Erwerbsarbeit und Familie / Freizeit verschwimmt. Expert*innen sprechen von „Entgrenzung“. Ob dies von Arbeitnehmer*innen als belastend empfunden wird, ist u.a. von persönlichen Einstellungen abhängig. In einer Studie1) im Rahmen des Projekts „MASTER - Management ständiger Erreichbarkeit“ wurden verschiedene Beschäftigtentypen entwickelt. Die Basis der Untersuchung bilden Arbeitnehmer*innen aus dem IT-Bereich. Prinzipiell dürften die Konstellationen ähnlich jedoch auch auf andere Unternehmen mit hoch qualifizierter und kundennaher Beratungs- und Dienstleistung übertragbar sein.

 

Gruppe 1: Die „zufriedenen Entgrenzten“: Immer und überall erreichbar

Für diese Beschäftigtengruppe ist eine arbeitsbezogene erweiterte Erreichbarkeit unproblematisch bzw. sogar erwünscht. „Zufriedene Entgrenzte“ stehen einer digitalen Lebensweise mit zahlreichen Vernetzungsmöglichkeiten sehr positiv gegenüber. Erreichbarkeitsmedien und -geräte wie Mail-Account, Smartphone, Laptops etc. werden beruflich wie privat gleichermaßen genutzt, ohne dass eine Trennung stattfindet. Diese Gruppe von Arbeitnehmer*innen greift abends, am Wochenende und im Urlaub - also außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit - häufig auf Arbeitsinhalte zurück. Erreichbarkeit bedeutet für sie Handlungsautonomie. Entsprechend häufig kontaktieren diese Beschäftigten auch selbst Vorgesetzte oder Kolleg*innen.

 

Hohe Zufriedenheit mit der eigenen Situation

„Zufriedene Entgrenzte“ sind mit ihrer eigenen Arbeitssituation und der erweiterten Erreichbarkeit sehr zufrieden. Wenn überhaupt beschreiben sie nur geringe Beanspruchungen oder Gesundheitsbeeinträchtigungen. Vielmehr sehen sie sich selbst als Leistungsträger*innen mit hohen Leistungsanforderungen, die sie souverän bewältigen.

In der genannten Untersuchung gehören zu dieser Gruppe ausschließlich jüngere Beschäftigte oder solche in höheren Führungspositionenausnahmslos männlichen Geschlechts.

Gruppe 2: Die „getriebenen Entgrenzten“: Erreichbarkeit als Notwendigkeit

Auch sie beschreiben eine enge Integration der Lebensbereiche und eine hohe Erreichbarkeit, die jedoch nicht als positives Ideal, sondern eher als Notwendigkeit oder kaum abänderbare Selbstverständlichkeit beurteilt wird. Ein höherer Erreichbarkeitsdruck wird vorwiegend in der Sache selbst gesehen. Erreichbarkeit am Abend, am Wochenende oder im Urlaub wird weniger mit Arbeitsanforderungen oder betrieblichen Verfügbarkeitsansprüchen begründet, sondern eher mit familiären Erfordernissen.

 

Probleme und Beanspruchungen werden hingenommen

„Getriebene Entgrenzte“ formulieren deutliche Probleme bei der Vereinbarkeit der verschiedenen Lebensbereiche. Im Gegensatz zu den „zufriedenen Entgrenzten“ wird die gelebte Praxis erheblich negativer empfunden. Trotzdem werden keine Strategien sichtbar, die eine systematische Einschränkung der Erreichbarkeit, also eine stärkere Begrenzung, zur Folge haben. Im Vordergrund steht die Optimierung des Handelns in Arbeit und Familie mit dem Ziel, höhere individuelle Effizienz zu erreichen.

Zu dieser Gruppe gehören vor allem Frauen mit betreuungsbedürftigen Kindern. Sie beenden die erste Arbeitsphase am Tag meist etwas früher als die unmittelbaren Kolleg*innen. Nach einer mehrstündigen Familienphase (mit überwiegender telefonischer Erreichbarkeit) schließt sich zu Hause eine zweite Arbeitsphase an.

„Grenzzieher*innen“ haben oftmals berufliche Krisen erlebt

Erfolgreiche und belastete Grenzzieher*innen haben eine Gemeinsamkeit, nämlich zurückliegende krisenhafte Ereignisse im Beruf, z. B. durch Überlastung oder massive Probleme bei der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben. Dies hat zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen geführt, oftmals auch zu Partnerschaftskrisen oder einer starken Unzufriedenheit mit der eigenen Situation. Aufgrund dessen entsteht der Entschluss für eine stärkere Differenzierung der Lebensbereiche und der bewussten Beschränkung der arbeitsbezogenen Erreichbarkeit. Das kann gelingen – aber auch scheitern.

Gruppe 3: Die „erfolgreichen Grenzzieher*innen“: Trennung von Arbeit und Privatleben ist geglückt

 Sie betrachten ihre neue Orientierung als weitgehend gelungen und empfinden ihre aktuelle Situation zumindest als befriedigend. Sie distanzieren sich von Betriebskulturen, in denen Erreichbarkeit als Zeichen für Leistungsfähigkeit gilt. Im Hinblick auf die Reduzierung der Erreichbarkeit treffen sie Absprachen mit Kolleg*innen und Vorgesetzten oder wechseln ihre Tätigkeit, wobei sie konkret persönliche Zeitgrenzen definieren. Es erfolgt eine bewusste Trennung von Medien und Geräten in berufliche und private sowie eine klare räumliche Trennung von Arbeits -und privaten Lebensbereichen. Nicht selten werden zudem die eigenen Ansprüche an die Arbeitsinhalte reduziert.

„Erfolgreiche Grenzzieher*innen“ sind in aller Regel etwas älter als der Durchschnitt – nicht zuletzt, da berufsbiografische Krisen üblicherweise erst ab einem bestimmten Lebensalter auftreten. Zugehörige dieser Gruppe formulieren in der Regel keine weiteren Karriereambitionen.

Gruppe 4: Die „belasteten Grenzzieher*innen“: Probleme durch gescheiterte Entgrenzung

Anders als die „erfolgreichen Grenzzieher*innen“ scheitern sie zumindest teilweise an ihrem Ziel, Entgrenzung zu vermeiden. Ihnen gelingt es nicht – oder nicht in ausreichender Weise – ihre Absichten und die tatsächliche Arbeitspraxis in Übereinstimmung zu bringen. Entsprechend sehen sie sich weiterhin stark durch Erreichbarkeit belastet. Dass die individuellen Strategien scheitern, liegt größtenteils daran, dass sich diese Gruppe stark auf Erreichbarkeitsroutinen und -kulturen fokussiert. Spontan auftretende Arbeitsprobleme oder Kundenanforderungen werden als unabdingbar empfunden und die Handlungsspielräume als sehr viel geringer angesehen als bei den „erfolgreichen Grenzzieher*innen“. Das Scheitern der Grenzziehung erleben solche Arbeitnehmer*innen in gewissem Maße als Ergebnis eigner Inkonsequenz und damit als persönliches Versagen.

 

Handlungsempfehlungen für Unternehmen

Erreichbarkeitsanforderungen und -praktiken werden von Beschäftigten ganz unterschiedlich erlebt. Daher variieren auch ihre damit einhergehenden Belastungen. Die Studienautor*innen formulieren entsprechende Empfehlungen bezüglich der Ursachenanalyse, zielgruppenorientierter Maßnahmen, einer Unterstützung durch die Arbeitgeber*innen sowie die Sensibilisierung der Beschäftigten, insbesondere der zufrieden Entgrenzten, im Hinblick auf die Reflektion ihrer Arbeits- und Lebensmodelle.